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Die Welt steht Kopf, das Rad steht still.

Corona hat uns alle unvorbereitet getroffen. Welche Bedenken gibt es? Welche Chancen bieten sich vielleicht? Kunstradfahrer sprechen über Auswirkungen des Virus auf ihren Sport und ihr Privatleben.


„Ich habe nach der WM nicht mal zwei Wochen Pause gemacht, sondern in den zwei Wochen schon wieder zwei Mal trainiert. Deswegen kenne ich das nicht, so lange ohne Fahrrad“, erzählt Lukas Kohl, vierfacher Weltmeister im Kunstradsport. Mehrere Wochen ohne das geliebte Kunstrad? Für viele Sportler unvorstellbar – vor Corona zumindest. „Das ist schon eine große Umstellung. Man merkt erst mal, wie viel Zeit man eigentlich auf dem Rad verbringt“, meint auch Sophie Nattmann und fügt hinzu: „Ich merke, dass ich es als Ausgleich zum Alltag brauche. Was mir vorher vielleicht manchmal ein bisschen gestunken hat, fehlt mir jetzt.“ Vielen wird es ähnlich gehen – nicht nur in Bezug auf Sport. Für andere dagegen ist die Situation nicht unbedingt neu, so auch für Tamaris Franke Fontinha: „Ich bin daran gewöhnt, dass ich immer wieder Trainingspausen habe, weil unsere Halle in den Ferien geschlossen bleibt. Auch durch den Schichtdienst kann ich nicht immer regelmäßig trainieren.“


Etwa drei Wochen ist es nun her, dass die meisten deutschen Kunstradsportler ihr Training einstellen mussten, als im Zuge der Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des neuartigen Virus auch die Sporthallen geschlossen wurden. Das Rad steht zwar still, dennoch nutzen viele Sportler die Zeit, um an den Grundlagen zu arbeiten, die sonst möglicherweise zu kurz kommen. „Ich habe mir einen Fitnessplan erstellt, der hauptsächlich auf Stabilität geht, also Unterarmstütz, Liegestützposition halten, Seitstütz“, meint Kohl. Der Plan ist zwar anstrengend, aber innerhalb des Kunstradteams Bayern motivieren sich die Sportler gegenseitig, beispielsweise über Videogruppen. „Was ich auf jeden Fall noch mache, ist ab und zu mentales Training, also im Kopf meine Kür durchgehen“, erzählt er weiter. Anderen empfiehlt der 24-Jährige auch, sich Zielprogramme auszudenken und darauf aufbauend Trainingspläne aufzustellen: „Ich könnte mir vorstellen, das bringt noch eine Zusatz-Motivation.“ Zeit ist endlich auch, um Bilder und Zeitungsartikel zu sortieren und noch mal anzuschauen. „Ich bin sonst beim Kraftsport nebenbei eher faul und mache jetzt natürlich mehr, also vielleicht zeigen sich ja auch neue Stärken“, überlegt Franke Fontinha. Dass man „mal mehr an der frischen Luft Sport treibt, solange das erlaubt ist“, stellt eine weitere Möglichkeit für sie dar, sich fit zu halten. „Wir sind so viel in Hallen, weil unser Sport das mit sich bringt, und manchmal sieht man wochenends die Sonne nur durchs Hallenfenster“, erklärt die Kunstradfahrerin dazu. Jetzt sei die Zeit, mal ohne Schuldgefühle etwas anderes tun zu können - solange man sich an die Anweisungen zu Abstand und Personenzahl hält, versteht sich von selbst. „Sich nicht hängen zu lassen und sich regelmäßig zu bewegen“ empfiehlt Nattmann allen, genauso „Kraft und Ausdauer zu trainieren“, um in diesen Bereichen nicht noch aufholen zu müssen, wenn die Zwangspause vorüber ist. Auch sonst zeigt sich die zweifache Vizeweltmeisterin im Zweier der Frauen optimistisch: „Dran bleiben, Motivation aufrechterhalten… dann können wir auch diese Herausforderung meistern!“


Eine Herausforderung ist es allemal. Doch bieten sich auch Chancen, die nicht nur das Krafttraining betreffen, das sonst zurückstecken muss. „Wir spielen viele Spiele“, meint Caro Wurth. „Das ist auch mal wieder schön. Ein bisschen mehr Familie.“ Ähnlich ist es bei ihrer Zweierpartnerin: „Eine große Chance sehe ich darin, mehr Zeit mit der Familie verbringen zu können. Das kam neben Studium, Nebenjob und Sport doch manchmal zu kurz.“ Einen ganz anderen Vorteil zieht Tamaris Franke Fontinha aus der Situation: „Dass die Hallen zu bleiben, hält mich davon ab, zu früh wieder aufs Rad zu steigen und meinem Fuß zu schaden“ – Den hatte sie sich vor einem knappen Monat gebrochen und pausierte deshalb verletzungsbedingt schon eher als andere.


Während die Hauptsaison der Elite-Sportler erst im September startet, ist die aktuelle Situation für die Schüler und Junioren deutlich schlimmer. „Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es aktuell für die Betroffenen ist“, fühlt Wurth mit. Gerade die Junioren hat es hart getroffen: Während die Deutsche Meisterschaft nur verlegt wurde, wurde die Junioren-Europameisterschaft in diesem Jahr abgesagt. Damit fallen die Höhepunkte des Jahres flach, zumindest vorerst, denn die Deutsche Meisterschaft soll nachgeholt werden. „Da wir in unserem Verein die Kleinen trainieren, macht uns das wirklich traurig. Wenn man trainiert, um an Tag X ein gutes Programm zu zeigen, und dann fällt alles aus, ist das bitter“, meint Sophie Nattmann. Wichtig ist es, auch die Jüngeren in dieser Zeit zu motivieren, in Gutach werden dafür beispielsweise Trainingspläne geschrieben. Auch die Trainer anderer Vereine werden kreativ. „Ich lobe jeden Trainer, der seine Sportler auch über soziale Medien auf Trab hält“, spricht Tamaris Franke Fontinha eine andere Möglichkeit an, die derzeit auf verschiedenen Plattformen im Internet auffällt.


Inzwischen gibt es auch Befürchtungen, dass die Saison der Elite beeinträchtigt wird. Landesmeisterschaften sind in manchen Landesverbänden schon für Mai angesetzt. Im Sommer stehen bereits die nächsten Weltcups an. Ob die Wettbewerbe letztendlich ausgetragen werden, bleibt weiterhin fraglich. „Fakt ist, im Kunstrad ist es für uns verdammt schwer, nach einer langen Trainingspause wieder Wettkampf zu fahren. Das ist anders, als in anderen Sportarten, wo man mit halbem Trainingsstand schon wieder starten kann. Ich denke, das hängt alles davon ab, wann in Deutschland, aber eben auch in anderen Nationen, die Regeln wieder gelockert werden können – ob dann zumindest noch so viel Training möglich ist, um eine abgespeckte Programmversion zu fahren“, meint Lukas Kohl. „Es wird wahrscheinlich niemand groß etwas aufbauen können, weil die meisten jetzt nicht trainieren können und nicht ins Programm, ins Training finden“, merkt auch Caro Wurth an. „Es birgt ja auch ein hohes Verletzungsrisiko, wenn man nach einem Monat oder einer voraussichtlich längeren Pause wieder auf das Rad steigt.“ Gerade die Weltcups im Sommer betrachten die Sportler kritisch, was ihr eigenes Training aber auch die Vorbereitung von Seiten der Ausrichter angeht. Hier wird die nächste Zeit zeigen, welche Veranstaltungen stattfinden können und welche verschoben oder abgesagt werden müssen.


„Die Sache ist, wie sie ist“, meint Kohl, „wir können sie nicht ändern. Wir können nur alles daran setzen, dass wir sie nicht verschlimmern und dementsprechend, auch wenn es hart ist, müssen wir daheim bleiben – und möglichst viele Handstände machen.“ Um seine täglichen 40 Handstände kommt der Weltmeister auch in der Corona-Zeit nicht herum, meint er leicht schmunzelnd. „Wenn die Welt Kopf steht, müssen wir halt auch Kopf stehen, damit sie wieder richtig ist.“


Natürlich sind Trainingspausen ärgerlich, aber die Kunstradfahrer bleiben optimistisch. Die Wochen ohne Rad können uns in anderen Bereichen voranbringen - und vielleicht kann dadurch der Rückstand auf dem Rad ausgeglichen werden. „Außerdem betrifft diese Pause so ziemlich jeden von uns, sodass wir nachher alle erstmal wieder reinfinden müssen. Das ist dann in gewisser Weise fair“, wirft Franke Fontinha noch ein. „Wir haben alle großes Glück, wenn in dieser Situation der Sport das Erste ist, was uns in den Kopf kommt. Für viele steht mehr auf dem Spiel, der Lebensunterhalt oder das Leben. Und gerade wenn wir solches Glück haben, sollten wir unsere Zeit so positiv wie möglich nutzen.“








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